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Review The Art of Negative Thinking

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Dieser Review enthält SPOILER!

Let’s get real!
von MissVega

Die Norweger an sich... machen fast so gute Filme wie die Dänen. Was ist da bloß los im hohen Norden, wieso zeichnen sich gerade die Dänen, Schweden und Norweger durch so eine absurde Art von Komik aus, dass man ihren Regisseuren und Drehbuchautoren beinahe ständig applaudieren möchte? Liegt es an der Mittsommernacht, an der hohen Mehrwertsteuer oder vielleicht an den vielen hübschen Däninnen, Schwedinnen und Norwegerinnen? Ich weiß es nicht, aber ich bin froh, dass es so ist, denn dadurch hat das titelgebende Negativdenken gar keine Chance, sich durchzusetzen. Also, mal sehen, was uns die Norweger hier anbieten...

Auch in Norwegen gibt man Regie-Neulingen offenbar gerne eine Chance. Gut, wenn sie dann so prima genutzt wird wie von Regisseur Bård Breien, dem hier eine grandiose Mischung aus Drama und schwarzer Komödie gelungen ist, bei der einem mehr als einmal das Lachen im Halse stecken bleibt. Da die Schauspieler hier nahezu unbekannt sein dürften, verzichte ich ausnahmsweise mal auf deren Nennung, bei Bedarf kann man sich ja am Kinoplakat orientieren, das ab 18. September 2008 aushängt.

Geirr ist mies drauf, ganz mies sogar. Seit einem Unfall vor zwei Jahren ist er an den Rollstuhl gefesselt, und damit kommt er überhaupt nicht klar. Er verschanzt sich zu Hause, hört stundenlang Johnny Cash oder sieht sich Kriegsfilme an und ist zu einem übellaunigen, maulfaulen Grantler mutiert, der es Ehefrau Ingvild schwer macht, ihn nicht zu verlassen. Doch bevor Ingvild diesen letzten Schritt gehen will, versucht sie, Geirr mit Hilfe der Therapiegruppe der nervig optimistischen und redefreudigen Tori aus seinem mentalen Loch zu befreien. Da Tori somit das krasse Gegenteil von Geirr ist, stehen die Chancen nicht allzu gut. Tori wird begleitet von der dauerlächelnden, vom Hals abwärts gelähmten Marte samt Ehemann Gard, der einst Martes Unfall verschuldet hat, von der depressiven und ständig jammernden Lillemor sowie vom Schlaganfall gezeichneten Asbjørn. Dann kann’s ja losgehen mit der Gruppensitzung bei Geirr zu Hause. Dumm nur, dass sich der diesem behinderten Optimistenpack gänzlich verweigert und überhaupt keine Lust hat, positive Motivationsphrasen nachzuplappern. Also wird Tori im wahrsten Sinne des Wortes in die Flucht geschlagen und Geirr bläst zur Therapiestunde der anderen Art: sagen wir doch einfach alle mal die Wahrheit, und zwar so lange, bis es richtig weh tut. Herbeigeschaffte Drogen und Alkoholika tun ein Übriges, um aus unseren pseudo-fröhlichen Behinderten Menschen zu machen, die sich endlich mal trauen, das zu sagen, was sie wirklich denken. Das wird schmerzhaft, sowohl psychisch als auch physisch. Erst als alle, nicht nur bildlich gesehen, am Boden liegen, zeichnet sich ein kleines Licht am Ende des Tunnels ab. Es war eine lange, harte, brutal ehrliche, witzige, erregende, deprimierende, gefährliche und lebensbejahende Nacht. Von wegen negative thinking...

Breien setzt sich hier völlig selbstverständlich über jegliche Art von political correctness hinweg. So werden Behinderte ohne Rücksicht auf ihre Behinderung wie ganz normale Menschen behandelt, ohne diese pseudo-behutsame Art, hinter der sich sowieso nur Hilflosigkeit verbirgt. Sie werden beschimpft, sie werden Ziel von Spott und Hohn und auch körperliche Gewalt wird hier ganz unverblümt angewendet. Von Sex ganz zu schweigen. Denn warum sollen eine depressive alte Frau und ein halbseitig Gelähmter, der kaum sprechen kann, keinen Sex haben? Eben! Manches Mal ist man doch ein wenig erschrocken, wie wenig Breien sich hier um gängige Konventionen oder gar Höflichkeit schert. Andererseits gibt ihm diese Handhabung die Möglichkeit zu vielen brüllkomischen Situationen. Trotzdem gelingt ihm das Kunststück, seine Protagonisten nie der Lächerlichkeit preiszugeben, egal, ob sie mit verrutschter Perücke halbnackt herumstehen oder, da komplett gelähmt, hilflos auf dem Boden liegen. Man kann sich einfach des Gefühls nicht erwehren, hier einen ungeschminkten, realen und richtigen Einblick in das Leben körperlich Behinderter zu bekommen, Seelenstriptease inklusive.

Die Schauspieler machen ihre Sache großartig. Man empfindet für jeden von ihnen Sympathie, so schlecht und daneben sie sich auch benehmen mögen. Das Drehbuch strotzt vor witzigen One-Linern, die einen mehrmals mitten im Lachen verschreckt innehalten lassen, nur, um dann innerlich zu applaudieren ob der unglaublich wahren Aussagen. Es gibt viele kleine, berührende Momente, die Einblick in die ganze Tragik des Lebens der Protagonisten gewähren und die Hoffnung nähren, dass selbst so ein sturer, grantiger und verbitterter Bock wie Geirr aus seiner schlimmen Depression wieder herausfindet. Perfekt abgerundet wird das Ganze von einem sehr individuellen Soundtrack, dessen Liedern man aufmerksam zuhören sollte, denn hier verbergen sich neben den scharfzüngigen Dialogen weitere interessante Texte. Mit 79 Minuten kommt der Film erfrischend kurz daher, somit bleibt für Langeweile gar kein Platz. Einen kleinen Abzug würde ich für den Look vornehmen, der mit Handkamera und leicht verwaschenen Farben etwas laienhaft daherkommt, was ja aber heutzutage gern auch als Kunstgriff ausgelegt wird. Ich hätte mir auf der technischen Seite aber doch ein klein wenig mehr Professionalität gewünscht. Ansonsten gibt’s an diesem Film absolut nichts auszusetzen. Acht von zehn gruppendynamischen Therapiesitzungen auf Krankenschein.

war im Cinemaxx 3, Hamburg

59 Bewertungen auf f3a.net

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Bewertungen

The Art of Negative Thinking
  • Score [BETA]: 73
  • f3a.net: 7.5/10 59
  • IMDb: 7.1/10
Bewertungen von IMDb werden zuletzt vor dem Festival aktualisiert, falls verfügbar!
© Fantasy FilmFest Archiv 2024-03-29 14:30

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