Reviewer
D.S. * 7.5
En marche vers la chute
Die ersten 30–40 Minuten von BLOODY ORANGES muss man erst mal durchstehen. Und das ist wirklich nicht ohne: In einer wahren Kakophonie der Unsympathie werden uns hier in einem fort lautstarke, erregte Gespräche, Diskussionen, Streitereien verschiedener Personengruppen präsentiert, deren Sinn sich zunächst genauso wenig erschließen will wie der potentielle Zusammenhang zwischen den vielen sehr verschiedenen Leuten in sehr verschiedenen Lokalitäten und Situationen.
Tatsächlich war ich irgendwann schon kurz davor, den Saal zu verlassen, denn es war für mich unglaublich anstrengend – und machte mich langsam, aber sicher aggressiv –, all den eitlen Pfauen, exaltierten Rechthabern und arroganten Besserwissern auf der Leinwand beim kontinuierlichen Absondern heißer Luft zuzusehen. In einer Art und mit einer Vehemenz, die man wohl typisch französisch nennen kann. So werden wir ganz am Anfang etwa mit der sechsköpfigen Jury eines unbedeutenden Rock-Tanz-Wettbewerbs konfrontiert, die bestimmen soll, welche Kandidaten-Paare ins Halbfinale kommen. Den wutbürgernden Redebeitrag eines der Jurymitglieder kann man als Protest der Filmemacher gegen politische Pseudokorrektheit werten, den eines anderen aber gleichzeitig als Protest gegen die nach wie vor oft offen zu Tage tretende Benachteiligung von Minderheiten. Zu diesem Zeitpunkt ist man allerdings mit einiger Wahrscheinlichkeit bereits so entnervt vom hektischen, herrischen, selbstverliebten Herumzicken aller Beteiligten, dass man kaum Lust verspürt, den Widerspruch aufzuklären – oder auch nur über ihn nachzudenken.
Zum Glück blieb ich aber doch sitzen. Denn zum einen entwickelt sich aus all dem Krakeelen über alle möglichen Themen natürlich doch irgendwann ein Zusammenhang, ein Muster, eine Message – und diese lässt sich schließlich ziemlich deutlich als verbitterte Satire über, nein: als Abrechnung mit dem Zustand der westlichen Industrienationen und ihrer Bewohner, ihrer Politikerkasten, ihrer kaum existenten Solidarität mit den Schwächeren lesen. Stellvertretend bekommt hier die als korrupt desavouierte Republik Frankreich unter Macron die volle Breitseite der galligen, unversöhnlichen Kritik ab.
Zum anderen und vor allem aber wandelt sich der Tonfall des Films ungefähr in seiner Mitte aufs Extremste. Plötzlich wird nicht mehr endlos, belanglos gelabert. Wie aus dem Nichts hält stattdessen der brutale Wahnsinn Einzug, wird BLOODY ORANGES ein fiebriger Albtraum voller Blut, Gewalt und Entwürdigung, der seinesgleichen sucht. Mehr zu verraten, wäre eine Sünde, darum sage ich nur: Das sollte man selbst erleben.
Schön ebenfalls, dass im letzten Drittel des Films – wie bereits angemerkt – auch die Redeschlachten des ersten Drittels nachträglich Bedeutung erlangen und die Zusammenhänge zwischen den vorgestellten Personen klar werden, wobei sie in einigen Fällen im herzzerreißenden Drama enden. Was nur dazu beiträgt, dass sich BLOODY ORANGES in der Gesamtschau als wirklich außergewöhnliches Werk offenbart, das bis ins Mark trifft, fesselt und fasziniert. Es braucht zunächst einiges an Ausdauer – aber es lohnt sich. Unvorhergesehenes und unvorhersehbares Pflichtprogramm, 7,5 von 10 Punkten.
Tatsächlich war ich irgendwann schon kurz davor, den Saal zu verlassen, denn es war für mich unglaublich anstrengend – und machte mich langsam, aber sicher aggressiv –, all den eitlen Pfauen, exaltierten Rechthabern und arroganten Besserwissern auf der Leinwand beim kontinuierlichen Absondern heißer Luft zuzusehen. In einer Art und mit einer Vehemenz, die man wohl typisch französisch nennen kann. So werden wir ganz am Anfang etwa mit der sechsköpfigen Jury eines unbedeutenden Rock-Tanz-Wettbewerbs konfrontiert, die bestimmen soll, welche Kandidaten-Paare ins Halbfinale kommen. Den wutbürgernden Redebeitrag eines der Jurymitglieder kann man als Protest der Filmemacher gegen politische Pseudokorrektheit werten, den eines anderen aber gleichzeitig als Protest gegen die nach wie vor oft offen zu Tage tretende Benachteiligung von Minderheiten. Zu diesem Zeitpunkt ist man allerdings mit einiger Wahrscheinlichkeit bereits so entnervt vom hektischen, herrischen, selbstverliebten Herumzicken aller Beteiligten, dass man kaum Lust verspürt, den Widerspruch aufzuklären – oder auch nur über ihn nachzudenken.
Zum Glück blieb ich aber doch sitzen. Denn zum einen entwickelt sich aus all dem Krakeelen über alle möglichen Themen natürlich doch irgendwann ein Zusammenhang, ein Muster, eine Message – und diese lässt sich schließlich ziemlich deutlich als verbitterte Satire über, nein: als Abrechnung mit dem Zustand der westlichen Industrienationen und ihrer Bewohner, ihrer Politikerkasten, ihrer kaum existenten Solidarität mit den Schwächeren lesen. Stellvertretend bekommt hier die als korrupt desavouierte Republik Frankreich unter Macron die volle Breitseite der galligen, unversöhnlichen Kritik ab.
Zum anderen und vor allem aber wandelt sich der Tonfall des Films ungefähr in seiner Mitte aufs Extremste. Plötzlich wird nicht mehr endlos, belanglos gelabert. Wie aus dem Nichts hält stattdessen der brutale Wahnsinn Einzug, wird BLOODY ORANGES ein fiebriger Albtraum voller Blut, Gewalt und Entwürdigung, der seinesgleichen sucht. Mehr zu verraten, wäre eine Sünde, darum sage ich nur: Das sollte man selbst erleben.
Schön ebenfalls, dass im letzten Drittel des Films – wie bereits angemerkt – auch die Redeschlachten des ersten Drittels nachträglich Bedeutung erlangen und die Zusammenhänge zwischen den vorgestellten Personen klar werden, wobei sie in einigen Fällen im herzzerreißenden Drama enden. Was nur dazu beiträgt, dass sich BLOODY ORANGES in der Gesamtschau als wirklich außergewöhnliches Werk offenbart, das bis ins Mark trifft, fesselt und fasziniert. Es braucht zunächst einiges an Ausdauer – aber es lohnt sich. Unvorhergesehenes und unvorhersehbares Pflichtprogramm, 7,5 von 10 Punkten.
war im Harmonie, Frankfurt
Leimbacher-Mario * 8.5
Orangensaft mit Schuss
„Bloody Oranges“ lief dieses Jahr exklusiv nur in fünf der sieben Städte des Fantasy Filmfests, kommt frisch aus Cannes und ist ein urkomischer wie bitterböser gesellschaftspolitischer Angriff in Rein- sowie Filmkultur. Nah am Skandalfilm. Ganz klar ein Spalter. Ein Schocker. „In The Loop“ trifft „Frontiers“. Ein Bömbchen. Ein Biest. Ein Brett. Jeder kriegt sein Fett weg, keiner ist sicher. Ein Sammelsurium der Beobachtungen, Ideen und Wortsalven. Untertitelstakkato. Ein Favorit von mir dieses Jahr. Bleibt sicher ein absoluter Geheimtipp. Und Geschmacksache. Es geht quer durch die gesellschaftlichen Schichten Frankreichs und das sonst so stolze Land samt momentaner Spaltung und Stimmung wird quasi seziert wie grunzendes Schwein auf dem Operationstisch. Vom verschuldeten Ehepaar in einer Rock&Roll-Tanz-Competition bis zum scheinheiligen Politiker, vom ekligen Taxifahrer bis zum pubertierenden Mädchen mit gegensätzlichen ersten sexuellen Erfahrungen…
„Oranges Sanguines“ legt los wie die Feuerwehr. Sprachlich. Thematisch. Mutig. Selbst wenn von den Mündern über die Untertitel bis in unsere Augen und Köpfe sicher einige Details und Boshaftigkeiten verloren gehen - das reichte schon, um mich Kringeln und Lachen, Schütteln und Verschlucken, Staunen und Raunen, Leiden und Neiden zu lassen. Das würde ich nur zu gerne mal ähnlich auch nur ansatzweise aus Deutschland sehen. Könnten wir aber kaum weiter von entfernt sein. Frankreich hat die Künstler, die Provokateure, das Augenzwinkern und die Eier. Oder Letzteres auch nicht (mehr). Zuschauer wissen, was ich meine. Ein Anti-„Tatsächlich… Liebe“. Schmerzhaft und schamlos. Traurig und akut. „Bloody Oranges“ erzählt kaum echte Geschichten, echte Verbindungen zu den nicht wenigen Figuren entstehen nicht, alles ist schon comichaft überhöht, richtig unschuldig ist hier kaum jemand. Aber der prickelnde, spuckende und fluchende Gesamtcocktail schmeckt mir einfach köstlich. Eine Collage der Eitelkeiten und Dringlichkeiten.
Fazit: Frech, frivol, französisch, fies - eine der feinsten Gesellschaftssatiren der letzten Jahre. Unangenehm, köstlich und grenzgenial. Diese „Blutorangen“ zaubern ein skandalös-kultiges Gallengetränk, das hierzulande leider kreativ wie muttechnisch momentan nicht ansatzweise denkbar ist.
„Oranges Sanguines“ legt los wie die Feuerwehr. Sprachlich. Thematisch. Mutig. Selbst wenn von den Mündern über die Untertitel bis in unsere Augen und Köpfe sicher einige Details und Boshaftigkeiten verloren gehen - das reichte schon, um mich Kringeln und Lachen, Schütteln und Verschlucken, Staunen und Raunen, Leiden und Neiden zu lassen. Das würde ich nur zu gerne mal ähnlich auch nur ansatzweise aus Deutschland sehen. Könnten wir aber kaum weiter von entfernt sein. Frankreich hat die Künstler, die Provokateure, das Augenzwinkern und die Eier. Oder Letzteres auch nicht (mehr). Zuschauer wissen, was ich meine. Ein Anti-„Tatsächlich… Liebe“. Schmerzhaft und schamlos. Traurig und akut. „Bloody Oranges“ erzählt kaum echte Geschichten, echte Verbindungen zu den nicht wenigen Figuren entstehen nicht, alles ist schon comichaft überhöht, richtig unschuldig ist hier kaum jemand. Aber der prickelnde, spuckende und fluchende Gesamtcocktail schmeckt mir einfach köstlich. Eine Collage der Eitelkeiten und Dringlichkeiten.
Fazit: Frech, frivol, französisch, fies - eine der feinsten Gesellschaftssatiren der letzten Jahre. Unangenehm, köstlich und grenzgenial. Diese „Blutorangen“ zaubern ein skandalös-kultiges Gallengetränk, das hierzulande leider kreativ wie muttechnisch momentan nicht ansatzweise denkbar ist.
glotzte im Residenz, Köln
landscape * 9.0
Erfrischend unkorrekte schwarze Komödie
Identitätspolitik wird gerade überall diskutiert - so auch hier. Endlose, brotlose Wortgefechte über den korrekten Umgang mit dem Anderen, wodurch es noch mehr zum Anderen wird.
Aber auch die Schönheit des Alterns und des Scheiterns wird behandelt, und wie man erfolgreich durch Dauerlächeln sein kann, während der dauermürrische Anwalt keinen Zugang mehr zum Leben findet.
Aber es wird nicht nur geredet, es wird auch seeehr wild: Ein Finanzminister, der sich gut verkaufen will und durch einen Unfall in die Hände ***SPOILER***eines Sadisten gerät und in den sozialen Medien bloßgestellt wird, und die Wut der Jugend, die ihre Rache auslebt.
Das Prekariat ist dagegen nur durch einen Taxifahrer vertreten, der seine Armut hasst (?) und auch für die anderen nur Hass übrig hat.
Das alles verpackt in eine schwarze Komödie ohne Moral am Ende der Geschicht'. Am Anfang etwas lahm in Gang kommend und dann richtig Fahrt aufnehmend.
Aber auch die Schönheit des Alterns und des Scheiterns wird behandelt, und wie man erfolgreich durch Dauerlächeln sein kann, während der dauermürrische Anwalt keinen Zugang mehr zum Leben findet.
Aber es wird nicht nur geredet, es wird auch seeehr wild: Ein Finanzminister, der sich gut verkaufen will und durch einen Unfall in die Hände ***SPOILER***eines Sadisten gerät und in den sozialen Medien bloßgestellt wird, und die Wut der Jugend, die ihre Rache auslebt.
Das Prekariat ist dagegen nur durch einen Taxifahrer vertreten, der seine Armut hasst (?) und auch für die anderen nur Hass übrig hat.
Das alles verpackt in eine schwarze Komödie ohne Moral am Ende der Geschicht'. Am Anfang etwas lahm in Gang kommend und dann richtig Fahrt aufnehmend.
staunte im Savoy, Hamburg
Herr_Kees * 7.5
It’s a wonderful, wonderful life
So recht einem Genre will sich dieser episodisch erzählte französische Film nicht zuordnen lassen:
Da gibt es ein hoch verschuldetes älteres Ehepaar, dessen letzte Hoffnungen ausgerechnet auf dem Gewinn eines Rock’n’Roll Tanzwettbewerbs liegen und das damit einer Jury ausgeliefert ist, die vor lauter PC-Diskussion und gleichzeitiger Minderheitendiskriminierung das Wesentliche aus dem Auge verliert.
Da gibt es eine Sechzehnjährige, die kurz vor dem ersten Geschlechtsverkehr steht und von ihrer Frauenärztin reichlich radikal aufgeklärt wird.
Da gibt es einen Minister mit Dreck am Stecken, dessen Autopanne einen – vorsichtig ausgedrückt – unerwarteten Verlauf nehmen wird.
Und da gibt es einen Anwalt, der sich offenbar nicht nur im Bett für einen der Größten hält, im Verlauf des Films jedoch so einiges einstecken muss.
Wie es sich für einen ordentlichen Episodenfilm gehört, sind die Schicksale aller Protagonisten miteinander verwoben, was jedoch erst nach und nach deutlich wird. Was ORANGES SANGUINES jedoch von Werken wie SHORT CUTS, AMORES PERROS oder HUNDSTAGE deutlich abhebt, ist sein Tempowechsel in der zweiten Hälfte des Films. Konnte man den Film mit seinen subtil nach allen Seiten austeilenden Dialogen bis dahin noch als bissige Gesellschaftssatire bezeichnen, so versetzt uns eine Episode plötzlich ins Terrorterritorium eines FRONTIER(S) und der Fortgang der Geschichten wird zunehmend gewalttätiger und düsterer.
Nichtsdestotrotz bleibt von BLOODY ORANGES ein geschlossener Eindruck in Erinnerung – der eines ungewöhnlichen, aber irgendwie berührenden Films.
Da gibt es ein hoch verschuldetes älteres Ehepaar, dessen letzte Hoffnungen ausgerechnet auf dem Gewinn eines Rock’n’Roll Tanzwettbewerbs liegen und das damit einer Jury ausgeliefert ist, die vor lauter PC-Diskussion und gleichzeitiger Minderheitendiskriminierung das Wesentliche aus dem Auge verliert.
Da gibt es eine Sechzehnjährige, die kurz vor dem ersten Geschlechtsverkehr steht und von ihrer Frauenärztin reichlich radikal aufgeklärt wird.
Da gibt es einen Minister mit Dreck am Stecken, dessen Autopanne einen – vorsichtig ausgedrückt – unerwarteten Verlauf nehmen wird.
Und da gibt es einen Anwalt, der sich offenbar nicht nur im Bett für einen der Größten hält, im Verlauf des Films jedoch so einiges einstecken muss.
Wie es sich für einen ordentlichen Episodenfilm gehört, sind die Schicksale aller Protagonisten miteinander verwoben, was jedoch erst nach und nach deutlich wird. Was ORANGES SANGUINES jedoch von Werken wie SHORT CUTS, AMORES PERROS oder HUNDSTAGE deutlich abhebt, ist sein Tempowechsel in der zweiten Hälfte des Films. Konnte man den Film mit seinen subtil nach allen Seiten austeilenden Dialogen bis dahin noch als bissige Gesellschaftssatire bezeichnen, so versetzt uns eine Episode plötzlich ins Terrorterritorium eines FRONTIER(S) und der Fortgang der Geschichten wird zunehmend gewalttätiger und düsterer.
Nichtsdestotrotz bleibt von BLOODY ORANGES ein geschlossener Eindruck in Erinnerung – der eines ungewöhnlichen, aber irgendwie berührenden Films.
21 Bewertungen auf f3a.net
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Bewertungen
Bloody Oranges
- Score [BETA]: 64
- f3a.net: 7.5/10 21
- IMDb: 5.3/10