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Review Irréversible

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Dieser Review enthält SPOILER!

von Mirco Hölling
Irréversible

Ein Film, der einen mit seiner brachialen Wucht geradezu umhaut. Film wird hier nicht nur ein rein sinnliches sondern auch ein körperliches Erlebnis.

Erzählt wird die Geschichte einer Vergewaltigung und der nachfolgenden (versuchten) Rache am vermeintlichen Täter. Die Erzählstruktur ist rückblendenorientiert. D.h. die Erzählung beginnt mit der Rache und endet mit dem Tag vor der Vergewaltigung. Dies lässt Erinnerungen an Christopher Nolans "Memento" zu, die man aber ob der Unterschiede in Thematik, Stil und Inhalt gleich wieder verwerfen sollte. Verschachtelte Erzählstrukturen gab es schon länger (man denke nur an "Pulp Fiction") und wird es auch immer wieder geben. "Memento" und "Irreversible" jedenfalls haben aber auch gar nichts miteinander gemein.

Interessant ist noch, daß Noé die Erzählung mit seinem Hauptdarsteller aus seinem Vorgängerwerk "Seul contre tous" (ebenfalls ein Geschoss) beginnt, um dann in die Story von Irréversible einzusteigen. Gerade in der Anfangssequenz erlebt der Zuschauer eine Kamerafahrt (ach, was sag ich... einen "Kameraflug") durch einen schwulen Nachtclub (Le Rectum = Der Arsch), in der die beiden Protagonisten am vermeintlichen Vergewaltiger brutalst Rache nehmen (einen vergleichbaren Gore-Effekt habe ich noch nie gesehen). Die Kamera umschwirrt und umfliegt die beiden, daß einem im Kino regelrecht übel wird. Die Bewegungen sind jedoch nicht vergleichbar mit Dogma-Gewackel o.ä., es handelt sich um eine wie entfesselt fliegende, sich permanent drehende Kamera, die den rauschartigen Zustand der beiden Protagonisten wiederspiegelt. Unterstützt wird das Ganze durch rotes Licht und einen hämmernden Soundtrack, der Erinnerungen an das Pochen im Ohr zulässt, wenn man unter Hochdruck steht.

Die darauffolgenden, in der Chronologie davor liegenden Sequenzen zeigen die Suche nach dem Nachtclub, die eher von Wut und Rachsucht bestimmt sind. Von Blutrausch ist hier noch keine Spur. Folgerichtig ist die Kameraarbeit hier eher hektisch und schnell. Handkamera ohne Rücksicht auf den Zuschauer.

Im zentralen (und auch berüchtigsten) Element des Films, der Vergewaltigungssequenz, mutet Noé uns einiges zu: Die Kamera wird auf den Boden des Tatortes (ein roter U-Bahn-Fußgängertunnel) gestellt und verharrt dort
ca. 10 - 15 Minuten nahezu unbewegt. Der Akt selber wird zwar ausgiebig gezeigt, rutscht aber nicht ins voyeuristische, da diese Sequenz zum aufgeilen sicherlich völlig ungeeignet ist, andererseits als sehr realistisch eingestuft werden dürfte. Anfeindungen der Spekulativität dürften daher verpuffen, denn die Abbildung der Realität kann und darf nicht verurteilt werden (für mich unbegreiflich, daß trendy "Spassfilme" wie "Baise-moi" nicht vielmehr in diese Kreuzfeuer geraten sind).

Im Anschluss daran erlebt man nun den "Alltag" des Opfers mit ihrem Partner und einem Freund (die beiden "Racheengel") auf einer Party und vorher zu zweit im Bett nach dem Liebesakt. Ganz alltägliche Szenen mit kleinen Konflikten, lustigen Situationen und Spaßmacherei werden gezeigt. Sympathische Kleinigkeiten des Alltags machen die Personen lebendig, lassen sie zu Fleisch werden. Die Kameraarbeit ist in diesen Sequenzen ruhig, z.T. sogar schön. Sie gleitet durch die Wohnung des Pärchens und verfolgt die beiden bei kleinen Neckereien und harmlosen Späßchen. Anschließend ist die Protagonistin (Monica Bellucci) alleine in der Wohnung und stellt fest, daß sie schwanger ist, Beethovens 7. ertönt und sie liegt plötzlich auf einer sattgrünen Wiese. Alles scheint toll, die Kamera fliegt vor Freude, bis sich die fliegende Bewegung ins unangenehme verwandelt (man ist unvermittelt an die Anfangssequenz erinnert) und das Bild plötzlich nur noch hypnotisches Flattern und der Ton laute Electronic-Geräusce sind.

Ende!!!

Nach ca. 20 min ist man wieder in der Lage zu sprechen, wenn man das Kino nicht schon längst während des Filmes verlassen hat. Noé ist mit Sicherheit kein optimistischer Betrachter des Lebens aber wohl auch nicht der Zyniker, der er zuerst scheint. Die Story seiner Handlung ist durchsetzt mit Entscheidungen, die immer zu negativen Folgen führen. Bellucci erzählt ihrem Freund nicht, daß sie schwanger ist, er benimmt sich ätzend auf der Party, sie haut zickig ab, derer beiden Freund hält sie nicht auf, sie geht durch den Tunnel anstatt über die Strasse, Vincent Cassel und Albert Dupontel entschliessen sich zur Rache, anstatt auf die Polizei zu vertrauen, Cassel sucht Rache, anstatt zu seiner Freundin ins Krankenhaus zu fahren Dupontel hält Cassel nicht zurück, der immer mehr die Fassung verliert und sinnlos Leute verprügelt, und letztlich erschlagen sie beide einen völlig Unbeteiligten. All diese Fehlentscheidungen haben verheerende Folgen und durch die Struktur der Rückwärtserzählung wird dem Zuschauer bewusst, wie nah man im Zustand absoluten Glücks dem vollkommenen Inferno ist. Nur 4 - 5 falsche, aber absolut alltägliche Entscheidungen führen in die totale Katastrophe, die 4 zerstörte Leben hinterlässt. Interessanterweise setzt Noé immer dann einen Schnitt, wenn eine verheerend falsche Entscheidung getroffen wurde und "spult" zurück. Wirkung steht vor Ursache, was der Zuschauer dann auch eindrucksvoll verinnerlicht.

Fast möchte man meinen, Noé fordere seinen Zuschauer dazu auf, auf sich aufzupassen. Man möge dran denken, daß man in jeder Lebenslage das absolut falsche machen kann und welche Folgen daraus entstehen. Noé nun deshalb Moralismus vorzuwerfen, entbehrt allerdings jeder Grundlage. Einen bitteren Humanismus kann man hier wohl eher ansetzen.

Neben all diesem inhaltlichen Punkten ist Irréversible aber auch einfach ein fantastischer Film. Bellucci, Cassel und Dupontel spielen herausragend und eindringlich. Die Montage und die Bildgestaltung sind überlegt und perfekt. Die im Film mehrfach vorgetragene Verehrung Kubricks (Vorspann, Poster in der Wohnung, Einsatz klassischer Musik, hier sogar Beethoven) ist zu spüren: Nichts ist zufällig, alles ergibt einen Sinn im Gesamtzusammenhang, nichts ist Spielerei, alles unterliegt einer Kubrickschen Sorgfaltspflicht. Musik und Tonspur unterliegen komplett der Story und führen kein Eigenleben. Hier ist nichts modisch oder zeitbezogen.

Irréversible ist ein zeitloses Meisterwerk.

Mirco Hölling (26.08.2002)

verweste im Grindel, Hamburg

49 Bewertungen auf f3a.net

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Bewertungen

Irréversible
  • f3a.net: 8.1/10 49
© Fantasy FilmFest Archiv 2024-04-18 04:36

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