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Review Secuestro express

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Hart, aber ungerecht.
von D.S.

Mein größter Kritikpunkt zuerst: "Secuestro Express" kann sich offensichtlich nicht so GANZ entscheiden, was für ein Film er eigentlich sein möchte. Natürlich, in erster Linie handelt es sich hier um ein Stück kraftvolle, oft unbarmherzige Sozialkritik. Nicht so ganz passend wirken dann aber die komödiantischen und die visuell stylischen Elemente, die dem Film vor allem in seinem ersten Drittel immer wieder ihren Stempel aufdrücken. Da aber zweifellos gerade diese Elemente den Film abseits seiner Inhaltsschwere sehr unterhaltsam machen, kann man sie ihm kaum übel nehmen. Allerdings kann man sich definitiv über sie wundern.

Wenn man phantasievoll ist und dem Film besonders wohlwollend gegenübersteht, könnte man aber vielleicht sagen, daß "Secuestro Express" in seiner vor allem formalen Zerrissenheit die von ihm portraitierte Gesellschaft Venezuelas aufs Genaueste widerspiegelt. So wie ein kleiner Teil der Menschen dort in Geld und Luxus schwimmt, gibt der Film sich zu einem kleinen Teil sehr modern und innovativ, protzt mit flashigen visuellen Ideen und Montage-Tricksereien. Der überwiegende Teil der Bevölkerung aber lebt in Armut und totaler sozialer Unsicherheit - und über den weitesten Teil seiner Laufzeit ist "Secuestro Express" von der filmischen Seite her eher klassisch gehalten. (Und "arm" übrigens auch: der DV-Look wirkt ziemlich billig und schmutzig, aber das ist hier nur positiv zu bewerten.)

Deshalb irritiert die Vermarktung des Films durch einen mehr als rasant geschnittenen Trailer, durch das brüllende Lettering "Vom Produzenten von Sin City und Once upon a time in Mexico!!" auf der DVD-Hülle bzw. Behauptungen à la "Große Vorbilder wie PULP FICTION und AMORES PERROS sind deutlich erkennbar" im FFF-Programmheft nur umso mehr. Natürlich, zunächst fühlt man sich an einige der genannten Filme erinnert, auch SNATCH und (vom Schwarzhumor-Faktor) MATANDO CABOS vom FFF 2005 kommen einem in den Sinn. Aber wie gesagt - dies ist nur die Oberfläche des Films. Nein, eigentlich sogar nur die Oberfläche seines ersten Drittels. Danach ist es vorbei mit fast allen Abwegigkeiten formaler wie inhaltlicher Art; zwar kommt es noch zu einigen Storywendungen, aber die sind nicht ansatzweise so überraschend oder gar absurd wie bei anderen Produktionen angelegt.

Aber genug von dieser Unausgewogenheit oder Unausgegorenheit (die sich übrigens aufklärt, wenn man das Making-Of zum Film betrachtet und erfährt, dass das Skript ursprünglich nur einen 20-minütigen Kurzfilm vorsah... der dann vermutlich in seiner Gänze schnell und stylisch geworden wäre). Reduziert auf das Wesentliche, auf seine Story nämlich, überzeugt "Secuestro Express" durchaus.

Vor allem dadurch, daß es in dieser Geschichte erfrischend wenig Schwarz-Weiß-Malerei, keine Helden gibt - mal abgesehen von Carla, der Hauptfigur, die uns allenfalls kurzzeitig an ihrer Keuschheit und Rauschmittel-Abstinenz zweifeln läßt, ansonsten aber rein und heilig scheint wie mindestens Mutter Theresa. Allerdings hat sie wohl doch einiges mehr durchzumachen als diese, nachdem sie und ihr Schicki-Micki-Lover dem inzwischen offenbar häufigsten Verbrechen auf den Straßen von Caracas zum Opfer fallen: dem Secuestro Express, dem "Express-Kidnapping".

Vier knallharte und, wie es scheint, vollkommen mitleidlose Unterschichts-Gesellen entführen die beiden von der Straße weg, da sie nach Geld und damit lohnenswert aussehen. Die Wertsachen werden ihnen abgenommen, die Konten geplündert, die Eltern angerufen und mit hohen Lösegeldforderungen konfrontiert. Schlimmer noch, es liegt permanent eine gewalttätige Explosion seitens der Kidnapper in der Luft. Die hübsche Carla scheint als Vergewaltigungsopfer prädestiniert, ihr Partner als Punching-Ball. Und ganz gleich, wie sehr sie sich Mühe geben, zu kooperieren und sich "richtig" zu verhalten: sie scheinen es nur schlimmer und schlimmer zu machen, die Lage spitzt sich unaufhaltsam zu.

Diese unerträglich angespannte Atmosphäre transportiert der Film brillant. Zum einen durch seine rauhe Optik und Akustik, die uns förmlich dabei sein lassen. Zum anderen durch die fast ausschließliche Konzentration der Erzählung auf die Entführungssituation, ohne viel Raum für ablenkende/entspannende Handlungsstränge. Viel Raum bieten uns auch die Kameraführung und generell das Setting nicht: der größte Teil der Handlung, die sich über eine Nacht, vielleicht gerade mal 8 Stunden erstreckt, spielt sich im Auto ab, mit dem die Opfer gekidnapped wurden. Und wir sind immer nah dran, können dem Geschehen nicht entkommen. Spüren den tiefliegenden Hass der Entführer auf das finanziell und sozial so viel besser gestellte, attraktive Pärchen. Fürchten mit ihm um die körperliche Unversehrtheit.

Oder? Tun wir das am Ende gar nicht? Da wir ihre Behandlung, wie einer der Entführer, als gerechte Bestrafung für ihre obszöne Zurschaustellung von Wohlstand halten? Das stellt uns der Film in einem gewissen Maße frei - dankenswerterweise. Nur zu leicht wäre es hier gewesen, die Handlung von ihrer erzählerischen Funktion zu befreien, sie vollständig zum Transport moralischer Botschaften zu benutzen, uns gar noch vermeintliche Schuldige oder Lösungen für soziale Krisen der Moderne um die Ohren zu hauen, Täter- und Opferrollen politisch korrekt zu verteilen.

Darauf läßt sich "Secuestro Express" jedenfalls nicht in dem Maße ein, wie man es vielleicht hätte erwarten können. Stattdessen legt er bis zuletzt Wert auf seine Geschichte, die übrigens auch von großteils bemerkenswerten Schauspielerleistungen getragen wird - und das, obwohl die meisten Darsteller Laien waren.

Sicherlich, gegen Ende läßt die Spannung dann doch ein wenig nach, das ganze Geschehen wird auf Dauer vielleicht etwas zu eintönig trist, trüb und deprimierend. Dann kann man sich schon mal wieder etwas von der gestalterischen kreativen Energie zurückwünschen, die der Film anfangs aufwies (allerdings keinen der komödiantischen Ausflüge, die wären an diesem Punkt nämlich endgültig fehl am Platz).

So wirkt "Secuestro Express" zuletzt doch zu deutlich gestreckt, um vollends zu begeistern. Nichtsdestoweniger trifft er den Zuschauer bitter in die Magengrube, ohne gleichzeitig zu viel an Moralinsäure zu verspritzen. Und das macht ihn ungemein sehenswert - auch wenn er die visuellen Erwartungen, die zunächst geweckt werden, auf längere Sicht absolut nicht erfüllen kann. 7,5 von 10 Punkten.

PS: Ein guter Teil der Ernsthaftigkeit, die der Film verbreitet, wird übrigens durch ein Bonusfeature der DVD gleich wieder zerstört: ein Musikvideo der angeblich "wichtigsten HipHop-Band Venezuelas", der zwei der Hauptdarsteller des Films angehören. Hier kann dann jedes noch so peinliche Genreklischee, das man sich vorstellen kann, bewundert werden... tut irgendwie ebenfalls weh. Aber auf ganz andere Weise.

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Secuestro express
  • f3a.net: 6.4/10 30
© Fantasy FilmFest Archiv 2024-04-19 08:55

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